13

 

„Jonas Redmond wird vermisst.“

Beim Klang von Elises Stimme schaltete Chase den Monitor seines Computers ab und sah auf. Diskret, ohne dass sie seine Bewegungen sehen konnte, ließ er das Messer, das er vor einigen Stunden bei der Patrouille mit Dante eingesteckt hatte, in eine der Schubladen seines Schreibtischs gleiten.

„Er ging letzte Nacht mit ein paar Freunden aus, aber ist nicht mit ihnen zurückgekommen.“

Elise stand in der offenen Tür seines Arbeitszimmers wie eine Verkörperung vollkommener Schönheit, selbst in den formlosen weißen Trauergewändern, die sie schon seit fünf Jahren trug.

Die Tunika mit den weiten Ärmeln und dem langen Rock umflatterte ihre zierliche Gestalt, der einzige Farbtupfer war die Witwenschärpe aus roter Seide, die sie locker um die Hüften gebunden trug.

Förmlich, wie sie war, würde sie nie Chases Domäne ohne seine Einladung betreten. Er erhob sich von seinem Stuhl und hielt ihr sie willkommen heißend die Hand entgegen. „Bitte, komm doch herein“, sagte er und konnte den Blick nicht von ihr lösen, als sie über die Schwelle glitt und sich ihm gegenüber an die Wand lehnte.

„Man sagt, er hätte in einem Nachtclub Drogen genommen und dann verrückt gespielt“, sagte sie leise. „Er hat versucht, jemanden anzugreifen. Seine Freunde bekamen es mit der Angst zu tun und sind fortgerannt. Sie haben ihn in der Panik verloren und wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. Den ganzen Tag über hat er sich nicht bei ihnen gemeldet.“

Chase antwortete nicht. Elise würde die Wahrheit nicht wissen wollen, und er würde der Letzte sein, der ihr die hässlichen Details vom schrecklichen Ende des jungen Vampirs erzählen würde -  denn er hatte es mit angesehen.

„Weißt du, Jonas ist einer von Camdens besten Freunden.“

„Ja“, sagte Chase ruhig. „Das weiß ich.“

Elise runzelte die glatte Stirn, dann sah sie von ihm fort und spielte unruhig mit ihrem Ehering. „Denkst du, es ist möglich, dass die beiden sich da draußen getroffen haben? Vielleicht verstecken Cam und Jonas sich irgendwo da draußen. Sie müssen solche Angst vor der Sonne haben. Wenigstens wird es bald wieder dunkel, in nur ein paar Stunden. Vielleicht werden wir heute Abend endlich gute Neuigkeiten haben.“

Chase bemerkte gar nicht, dass er sich bewegt hatte, aber plötzlich fand er sich auf der anderen Seite seines Tisches wieder, nur ein paar Schritte von Elise entfernt. „Ich werde Camden finden. Das habe ich dir versprochen. Du hast meinen Schwur, Elise; ich werde nicht ruhen, bis er wieder bei dir zu Hause und in Sicherheit ist.“

Sie schüttelte schwach den Kopf. „Ich weiß, dass du alles tust, was du kannst. Aber du opferst dieser Suche so viel. Ich weiß, wie gern du hier im Dunklen Hafen gearbeitet hast. Und jetzt hast du dich mit diesen gefährlichen Schurken des Ordens eingelassen …“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, sagte er sanft. „Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich weiß, was ich tue -  und warum.“

Als sie nun zu ihm aufsah, lächelte sie. Ein seltenes, kostbares Geschenk, das er begierig aufnahm. „Sterling, ich weiß, dass du und mein Mann in vielen Dingen verschiedener Meinung wart.

Quentin konnte manchmal recht … unflexibel sein. Ich weiß, dass er es dir in der Agentur nicht leicht gemacht hat. Aber er hat von allen die größten Stücke auf dich gehalten. Er sagte immer, dass du der Beste seist, der mit dem größten Potenzial, etwas Großes aus sich zu machen. Auch wenn es ihm nicht leicht gefallen ist, das dir gegenüber auszusprechen, aber er hat dich sehr gemocht.“ Sie atmete ein und ließ die Luft in einem Seufzer wieder entweichen. „Er wäre dir so dankbar dafür, was du für uns tust, Sterling. So dankbar wie ich.“

Als er in ihre warmen, lavendelfarbenen Augen sah, stellte Chase sich vor, wie er Elises Sohn nach Hause brachte wie eine Trophäe, die er für sie gewonnen hatte. Es würde Freudentränen und spontane Umarmungen geben. Fast konnte er ihre Arme in kathartischer Erleichterung um sich spüren, ihre feuchten Augen sehen, die ihn als ihren  persönlichen Favoriten anstrahlten. Ihren Retter.

Für diese Chance lebte er nun.

Er begehrte sie mit einer Wildheit, die ihn verstörte.

„Ich will nur, dass du glücklich bist“, sagte er und wagte, sich ihr noch etwas zu nähern.

Einen beschämenden Moment lang malte er sich eine andere Realität aus, in der Elise ihm gehörte, sich ihm zuliebe ihrer Witwenschärpe zusammen mit den Erinnerungen an ihren starken, ehrenhaften Gefährten entledigte, den sie so sehr geliebt und nun verloren hatte. In Chases ureigenstem Traum wurde Elises Körper voll und reif von ihrem gemeinsamen Kind. Er würde ihr einen Sohn schenken, den sie lieben und bei sich haben konnte. Die Welt würde er ihr zu Füßen legen.

„Du verdienst, glücklich zu sein, Elise.“

Sie gab einen kleinen kehligen Laut von sich, als hätte er sie in Verlegenheit gebracht. „Das ist sehr lieb von dir. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte. Besonders jetzt.“

Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern, die Berührung war nur ganz leicht, aber genug, um eine Hitzewelle durch seine Adern zu jagen. Er stählte sich und wagte kaum zu atmen, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihre Lippen auf seinen Mundwinkel drückte. Der Kuss war kurz und von herzzerreißender Keuschheit.

„Ich danke dir, Sterling. Ich könnte mir keinen hingebungsvolleren Schwager wünschen.“

 

Tess nahm die Kuchenvitrine eines Cafés in North End genau unter die Lupe und entschied sich schließlich für einen dekadenten, siebenstöckigen Brownie mit reichlich Karamellsoße. Normalerweise gönnte sie sich solche üppigen Extras nicht, und wenn sie an ihre knappe Finanzlage dachte, sollte sie es wahrscheinlich auch jetzt nicht tun. Aber nach einem langen Arbeitstag, der sich unmittelbar an ihre lange, schlaflose Nacht angeschlossen hatte, würde sie ihren Brownie und ihren Cappuccino ohne Schuldgefühle genießen. Gut, ohne ein paar klitzekleine Schuldgefühle würde es wohl nicht abgehen, aber die dürften sich verflüchtigen, sobald die süße, klebrige Leckerei mit ihren Geschmacksnerven in Berührung kam.

„Das geht auf mich“, sagte eine tiefe Männerstimme neben ihr.

Tess fuhr zusammen. Sie kannte diese tiefe Stimme mit dem wunderbaren Akzent genau, obwohl sie sie erst ein einziges Mal gehört halle.

„Dante“, sagte sie und drehte sich zu ihm herum. „Hallo.“

„Hallo.“ Er lächelte, und Tess fühlte in ihrem Bauch einen Schwarm verrückter Schmetterlinge. „Ich würde Sie gern einladen auf … meine Güte, sagen Sie mir nicht, dass das Ihr Abendessen ist?“

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Ich hatte ein spätes Mittagessen auf der Arbeit. Und Sie müssen nicht für mich bezahlen …“

„Aber ich bestehe darauf.“ Er reichte der Bedienung einen Zwanziger und winkte ab, als sie ihm das Wechselgeld reichen wollte. Den schmachtenden Blick der jungen Frau schien er gar nicht zu bemerken, all seine Aufmerksamkeit ruhte auf Tess. Die Intensität seiner wundervollen Augen, seine ganze Präsenz schien die Luft aus dem sowieso schon überheizten Raum zu verdrängen.

„Danke“, sagte sie und nahm ihre Brownietüte und den Pappbecher vom Tresen. „Und Sie selber möchten nichts?“

„Ich meide Zucker und Koffein. Das ist nicht mein Ding.“

„Nicht? Das sind zufällig zwei meiner Lieblingslaster.“

Dante gab einen Laut von sich, tief in der Kehle, fast ein Schnurren. „Was für Laster haben Sie denn sonst noch?“

„Meine Arbeit, vor allem“, sagte sie schnell und spürte, wie sie rot wurde. Schnell drehte sie sich zum Ende der Theke um und nahm sich ein paar Papierservietten aus dem Spender. Eine seltsame Hitze umspielte ihren Hals, prickelnd wie eine schwache elektrische Strömung. Tess spürte sie bis ins Mark, in jeder pulsierenden Vene. Jetzt musste sie aber sofort das Thema wechseln.

Viel zu sehr war sie sich der Hitze bewusst, die er ausstrahlte, als er ihr zwanglos zur Tür des Cafés folgte. „Ist das eine Überraschung, Sie hier zu treffen, Dante. Wohnen Sie in der Gegend?“

„Ganz in der Nähe. Und Sie?“

„Nur ein paar Blocks von hier“, sagte sie und ging mit ihm in die kühle Nachtluft hinaus.

Nun, als sie wieder neben ihm stand, konnte sie an nichts anderes denken als an ihr seltsames, erotisch aufgeladenes Treffen auf der Ausstellung. Seither hatte sie praktisch pausenlos an diese unglaublichen paar Minuten gedacht und sich gefragt, ob sie sich das Ganze vielleicht nicht nur eingebildet hatte -  ob Dante nicht einfach ein Produkt ihrer Vorstellung, einer dunklen Fantasie gewesen war. Und doch war er jetzt hier, aus Fleisch und Blut. So real, dass sie ihn berühren konnte. Es schockierte sie, wie sehr sie ihn berühren wollte.

Er machte sie nervös und hibbelig. Er machte, dass sie einfach nur wegwollte, bevor dieser Drang zu etwas noch Stärkerem wurde.

„Also“, sagte sie und hob ihren dampfenden Cappuccinobecher in seine Richtung, „noch mal danke für den Zucker- und Koffeinflash. Gute Nacht.“

Als sie sich umdrehte, um den Gehweg hinunterzugehen, streckte Dante die Hand aus und berührte ihren Arm. Sein Mund kräuselte sich zu einem amüsierten, fast schon argwöhnischen Lächeln. „Dauernd laufen Sie mir davon, Tess.“

Tat sie das? Und warum, verdammt noch mal, sollte sie es nicht tun? Sie kannte ihn kaum, und wegen dem, was sie von ihm wusste, schienen all ihre Sinne verrückt zu spielen. „Ich laufe doch nicht vor Ihnen weg …“

„Dann lassen Sie sich von mir nach Hause fahren.“

Er zog einen kleinen Autoschlüssel aus seiner Manteltasche, und ein schwarzer Porsche am Gehsteig begrüßte ihn mit einem Piepen, seine Lichter blinkten einmal auf.

Netter Wagen, dachte sie. Eigentlich überraschte es sie nicht, dass er etwas Schnittiges, Schnelles und Teures fuhr.

„Danke, aber … schon gut. Es ist eine so schöne Nacht, da wollte ich eigentlich zu Fuß gehen.“

„Darf ich Sie begleiten?“

Hätte er in seiner selbstbewussten, dominierenden Art darauf bestanden, hätte Tess ihn sofort abblitzen lassen. Aber er hatte höflich gefragt, so als ob er verstand, wie weit er in sie dringen konnte und wo die Grenze war. Und obwohl Tess sich an diesem Abend eigentlich danach gesehnt hatte, allein zu sein, fiel ihr, so sehr sie sich auch das Hirn zermarterte, einfach keine befriedigende Ausrede ein, um ihn stehen zu lassen. „Ja, klar. Ich denke schon. Wenn Sie möchten.“

„Es gibt nichts, was ich lieber täte.“

Sie begannen einen langsamen Bummel den Gehsteig entlang, nur ein Paar von vielen, unterwegs auf einer Straße voller Touristen und Einheimischer in North End. Eine ganze Weile lang sprachen sie nichts. Tess nippte an ihrem Cappuccino, und Dante besah sich mit falkenhaftem Scharfblick die Gegend.

Einerseits machte sie das etwas nervös; andererseits fühlte sie sich dadurch auch irgendwie beschützt. In all den vorbeiflanierenden Gesichtern konnte sie keine Gefahr entdecken, aber Dante hatte eine grimmige Wachsamkeit an sich, so als wäre er auf jede Situation eingestellt.

„Sie haben mir letztes Mal gar nicht gesagt, was Sie beruflich machen. Sind Sie Polizist oder so?“

Er sah im Gehen zu ihr herüber, sein Gesichtsausdruck war ernst. „Ich bin ein Krieger.“

„Krieger“, wiederholte sie, die antiquierte Bezeichnung machte sie skeptisch. „Was bedeutet das genau -  Militär? Spezialeinheit? Wachdienst?“

„In gewissem Sinn bin ich das alles. Aber ich bin einer von den Guten, Tess, das schwöre ich Ihnen. Meine Brüder und ich tun, was auch immer nötig ist, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Schwachen und Unschuldigen nicht zur Beute der Starken oder Korrupten werden.“

Sie lachte nicht, obwohl sie sich gar nicht sicher war, dass er es ernst meinte. Seine Wortwahl ließ sie an alte Ideale von Gerechtigkeit und Adel denken, so als hätte er sich einer Art von ritterlichem Ehrenkodex verschrieben.

„Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich diese Berufsbezeichnung schon mal in einem Lebenslauf gelesen habe. Was mich angeht, ich bin einfach die niedergelassene Tierärztin von nebenan.“

„Und womit verdient Ihr Freund seine Brötchen?“

„Exfreund“, gab sie mit ruhiger Stimme zurück. „Ben und ich sind schon seit einer Weile nicht mehr zusammen.“

Dante blieb stehen, um sie anzusehen, etwas Dunkles blitzte über seine Züge. „Haben Sie mich angelogen?“

„Nein, ich habe nur gesagt, dass ich mit Ben auf der Ausstellung war. Sie haben einfach angenommen, dass er mein Freund ist.“

„Und Sie haben mich in dem Glauben gelassen. Warum?“

Tess zuckte die Schultern, sie war sich nicht sicher. „Vielleicht habe ich Ihnen nicht genug vertraut, um Ihnen die Wahrheit zu sagen.“

„Aber jetzt vertrauen Sie mir?“

„Ich weiß nicht. Ich brauche lange, bis ich jemandem vertrauen kann.“

„Ich auch“, sagte er und sah sie jetzt noch intensiver an als zuvor. Sie nahmen ihren Spaziergang wieder auf. „Sagen Sie, wie sind Sie denn eigentlich zusammengekommen mit diesem …

Ben?“

„Wir haben uns vor ein paar Jahren über meine Praxis kennengelernt. Er ist mir immer ein guter Freund gewesen.“

Dante grunzte, sagte aber nichts weiter dazu. Weniger als einen Häuserblock vor ihnen lag der Charles River, wo Tess am liebsten spazieren ging. Sie schritt ihm voran über die Straße und betrat einen der gekiesten Uferpfade.

„Das glauben Sie doch nicht im Ernst“, sagte Dante, während sie sich der dunklen, gekräuselten Wasserfläche des Charles näherten. „Sie sagen, er ist ein guter Freund, aber Sie sind nicht ehrlich. Nicht zu mir, und auch nicht sich selbst gegenüber.“

Tess runzelte die Stirn. „Wie um alles in der Welt können Sie wissen, was ich denke oder nicht denke? Sie wissen gar nichts über mich.“

„Sagen Sie mir, dass ich mich irre.“

Sie setzte an, ihm genau das zu sagen, aber sein unerschütterlicher Blick sah bis in ihr Innerstes hinein. Er wusste es. Gott, wie war das möglich, dass sie sich ihm so verbunden fühlte? Wie konnte es sein, dass er in ihr las wie in einem offenen Buch? Sie hatte gestern ihm gegenüber dasselbe Gefühl gehabt -  diese plötzliche, eigenartige Verbundenheit - , im Museum.

„Auf der Ausstellung“, sagte sie, ihre Stimme ruhig in der kühlen Dunkelheit, „hast du mich geküsst.“

„Das habe ich.“

„Und dann bist du ohne ein Wort verschwunden.“

„Ich musste fort. Wäre ich nicht gegangen, hätte ich mich vielleicht nicht zufrieden gegeben mit nur einem Kuss.“

„Mitten in einem Saal voller Leute?“ Er sagte nichts, um ihr zu widersprechen. Und seine einladend geschwungenen Lippen sandten Feuerpfeile durch ihre Adern. Tess schüttelte den Kopf.

„Ich bin mir noch nicht mal sicher, warum ich es überhaupt zugelassen habe.“

„Wäre es dir lieber, ich hätte es nicht getan?“

„Es macht keinen Unterschied, ob ich es wollte oder nicht.“

Sie verfiel in ein schnelleres Tempo und ging vor ihm her.

„Du läufst schon wieder davon, Tess.“

„Tu ich nicht!“ Der angstvolle Ton ihrer Stimme überraschte sie. Und sie rannte wirklich, ihre Füße versuchten, sie so weit wie möglich von ihm fortzutragen, auch wenn alles andere in ihr von ihm angezogen wurde wie von einem Magnetfeld. Sie zwang sich, stehen zu bleiben. Ruhig zu bleiben, als Dante neben ihr ankam und sie herumdrehte, bis sie ihn ansah.

„Wir laufen alle vor etwas davon, Tess.“

Sie konnte ein kleines, verächtliches Schnauben nicht unterdrücken. „Sogar du?“

„Sogar ich.“ Er starrte auf den Fluss hinaus und nickte, als sein Blick zu ihr zurückkehrte. „Willst du die Wahrheit wissen, die absolute Wahrheit? Ich laufe schon mein ganzes Leben lang davon -  und das ist länger, als du dir vorstellen kannst.“

Das fand sie schwer zu glauben. Gut, sie wusste nur sehr wenig über ihn. Aber wenn sie ihn in einem Wort beschreiben müsste, hätte sie es vermutlich mit dem Wort furchtlos  getan.

Tess konnte sich nicht vorstellen, was diesen extrem selbstbewussten Mann dazu bringen konnte, auch nur eine Sekunde lang an sich selbst zu zweifeln. „Vor was, Dante?“

„Vor dem Tod.“ Einen Moment lang war er still und nachdenklich. „Manchmal denke ich, wenn ich mich nur schnell genug bewege, wenn ich mich nicht dazu hinreißen lasse, mich von Hoffnung oder irgendetwas anderem festnageln zu lassen, das mich in Versuchung führt, einen falschen Schritt zu tun …“

Er knurrte einen Fluch in die Dunkelheit. „Ich weiß auch nicht.

Ich bin mir nicht sicher, ob es möglich ist, seinem Schicksal zu entkommen, egal wie schnell oder wie weit wir vor ihm davonlaufen.“

Tess dachte an ihr eigenes Leben, ihre Vergangenheit, die sie verdammte und die sie schon so lange verfolgte. Sie hatte versucht, vor ihr wegzulaufen, aber deshalb war sie trotzdem immer da. Sie überschattete jede Entscheidung, die sie traf, und erinnerte sie an den Fluch, der ihr nie erlauben würde, wirklich zu leben. Sogar jetzt -  und in letzter Zeit immer öfter -  fragte sie sich, ob es nicht wieder an der Zeit war weiterzuziehen, einen neuen Anfang zu machen.

„Was denkst du, Tess? Wovor läufst du davon?“

Sie antwortete nicht, hin und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, und ihrer Sehnsucht, sich jemandem mitzuteilen. Jemandem, der vielleicht verstehen konnte, wie ihr Leben in diese verfahrene Situation gekommen war. Der ihr vielleicht sogar Absolution erteilen konnte.

„Ist schon gut“, sagte Dante sanft, „du musst es mir jetzt nicht sagen. Komm, gehen wir eine Bank suchen, damit du deinen Zucker und dein Koffein im Sitzen genießen kannst.

Von mir soll niemand behaupten können, dass ich einer Frau ihre liebsten Laster vorenthalte.“

 

Dante sah Tess dabei zu, wie sie ihren dicken, karamellgetränkten Brownie verputzte. Er konnte spüren, wie ihr Genuss in den kleinen Raum abstrahlte, der sie auf der Bank am Flussufer voneinander trennte. Sie hatte ihm einen Bissen angeboten, und obwohl seine Spezies von den primitiven menschlichen Nahrungsmitteln nicht mehr als nur ein paar Happen vertrug, nahm er einen kleinen Bissen des klebrigen Schokoladenkuchens, um zumindest an Tess’ hemmungslosem Genuss teilzuhaben. Er schluckte das schwere, eigentlich eher widerwärtige teigige Gebäck mit einem gezwungenen Lächeln.

„Gut, nicht?“ Tess leckte sich die schokoladenverschmierten Finger, schob einen nach dem anderen in den Mund und leckte ihn sauber ab.

„Lecker“, sagte Dante, der sie mit seiner Art von Hunger betrachtete.

„Du kannst noch mehr haben, wenn du möchtest.“

„Nein.“ Er zog sich zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist ganz deiner. Bitte. Genieß ihn.“

Sie aß den Brownie auf und trank dann den Rest ihres Cappuccinos. Als sie aufstand, um die leere Papiertüte und den Pappbecher in einen der Mülleimer im Park zu werfen, wurde sie plötzlich vom Anblick eines älteren Mannes abgelenkt, der zwei kleine, braune Hunde auf dem Flussweg spazieren führte.

Tess sagte etwas zu dem alten Mann, dann ging sie in die Hocke und ließ die begeistert wedelnden Hunde an sich schnuppern.

Dante sah sie lachen, als die kleinen Geschöpfe sich abwechselnd für sie auf dem Boden rollten und an ihr hinaufsprangen.

Ihre ständige Wachsamkeit, gegen die er anscheinend nichts ausrichten konnte, war völlig verschwunden. Ein paar kurze Minuten lang sah er, wie Tess ohne Angst und ohne Misstrauen wirklich war.

Sie war einfach wundervoll, und Dante fühlte einen starken eifersüchtigen Stich, als er die beiden kleinen Kläffer ansah, die sich ihrer ungehemmten, unverstellten Zuneigung erfreuen durften.

Er schlenderte hinüber und nickte dem alten Mann grüßend zu, als er und seine Hunde sich daran machten weiterzugehen.

Tess, immer noch strahlend, stand auf und sah den beiden Tieren hinterher, wie sie mit ihrem Herrchen davontrippelten.

„Du kannst gut mit Tieren.“

„Das ist mein Beruf“, sagte sie, als müsste sie sich für ihr Entzücken rechtfertigen.

„Du bist gut. Das sieht man.“

„Ich helfe Tieren gerne. Ich schätze, es gibt mir das Gefühl, irgendwie … zu etwas nütze zu sein.“

„Vielleicht könntest du mir mal zeigen, wie du arbeitest.“

Tess legte den Kopf schräg. „Hast du ein Haustier?“

Dante hätte verneinen sollen, aber er sah sie immer noch mit diesen lächerlichen beiden Pelzknäueln vor sich und wünschte sich, ihr eine ähnliche Freude machen zu können. „Ich habe einen Hund. So einen wie diese eben.“

„Wirklich? Wie heißt er denn?“

Dante räusperte sich, während er darüber nachdachte, wie er eine nutzlose Kreatur nennen würde, deren Überleben von ihm abhängig war. „Harvard“, knurrte er, die Mundwinkel gekräuselt von seinem privaten Insiderwitz. „Er heißt Harvard.“

„Ich würde ihn gerne mal kennenlernen, Dante.“ Eine kalte Brise kam auf, Tess fröstelte und rieb sich die Arme. „Es ist schon spät. Ich sollte mich jetzt wohl auf den Heimweg machen.“

„Ja, klar“, nickte Dante und schalt sich innerlich. Ein Haustier erfinden, du lieber Himmel. Nur weil er damit vielleicht bei Tess Punkte sammeln konnte. Andererseits konnte es auch ein bequemes Mittel sein, um mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Um herauszufinden, was genau sie über Crimson und die Dealeraktivitäten ihres Exfreundes wusste.

„Es war nett, mit dir spazieren zu gehen.“

„Das finde ich auch.“

Tess sah wehmütig auf ihre Füße herunter.

„Was ist?“

„Nichts. Es ist nur, dass … ich habe einfach nicht erwartet, dass heute Abend noch etwas Schönes passiert. Es ist nicht gerade einer meiner liebsten Tage im Jahr.“

„Warum nicht?“

Sie sah auf und zuckte vage die Achseln. „Ich habe Geburtstag.“

Er lachte leise. „Ist das denn so schlimm?“

„Normalerweise feiere ich ihn nicht. Sagen wir mal, ich komme aus einer recht schwierigen Familie. Es ist nicht der Rede wert.“

Es war der Rede wert. Dante brauchte keine vollständige Blutsverbindung mit Tess, um sofort zu verstehen, dass Tess noch immer an einer sehr alten Wunde litt. Er wollte alles über ihren Schmerz und seine Ursache wissen. Bei dem Gedanken, dass sie unglücklich war, flammten seine Beschützerinstinkte auf. Aber sie ging schon von ihm fort und auf den Verbindungspfad zu, der sie zurück auf die Straße und zu ihrem Wohnviertel bringen würde. Er griff nach ihrer Hand, um ihren Rückzug aufzuhalten. Er wollte sie in seine Arme ziehen und sie festhalten.

„Du solltest jeden Tag feiern, Tess. Besonders diesen. Ich bin froh, dass ich einen Teil davon mit dir verbringen durfte.“

Sie lächelte -  ein wirkliches Lächeln, ihre Augen glänzten im weichen Schein der Parklampen, ihr sinnlicher Mund zog sich in einen wunderschönen, sanften Bogen. Dante konnte seinem Impuls, sie nahe an sich zu spüren, nicht widerstehen.

Er umschloss ihre Finger fester mit seinen und zog sie zärtlich an sich.

Er sah hinab in ihr bezauberndes Gesicht, verging fast vor Sehnsucht nach ihr. „Kein Geburtstag ist vollständig ohne einen Kuss.“

Schlagartig veränderte sich Tess’ Gesichtsausdruck, als fiele vor ihm eine Tür ins Schloss. Sie erstarrte und machte sich von ihm los. „Ich mag keine Geburtstagsküsse“, stieß sie hervor. „Ich denke, für heute ist es genug, Dante.“

„Tess, es tut mir leid …“

„Ich muss los.“ Sie betrat den Weg. Dann wandte sie sich plötzlich ab und lief schnell davon, ließ ihn allein im Park stehen und sich fragen, was um Himmels willen eigentlich gerade geschehen war.

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